Zum Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts geraten die Menschen immer mehr in den Eindruck eines Zusammenlebens
und einer zivilisatorischen Abhängigkeit von Maschinen. Ein neuer, mechanischer Herzschlag gibt den Rhythmus der gesellschaftlichen Entwicklung vor. Riesige Dampfmaschinen, Druckmaschinen, Verbrennungsmotoren, Lokomotiven: eine scheinbar lebendig gewordene Maschinenwelt drängt sich in die vormals von menschlicher Anstrengung und Pferdestärke betriebene Produktion hinein. Die Elektrifizierung fließt durch Stromleitungen wie durch Adern eines neues Organismus bis in die Wohnzimmer der Menschen und erhellt wie von Geisterhand den Lebensraum. Nicht nur in den Fabriken stellt sich den Arbeiter:innen die Frage, inwieweit die Maschinenwelt das Menschliche verdrängt. Die Fließbandproduktion, in der die Maschine den Takt vorgibt, wird zum Symbol der Unterwerfung des Menschen unter die Technik.
Aber wie steht es einhundert Jahre später mit unserer Beziehung zur Maschinenwelt?
Bittet man im Jahr 2020 eine Zeichner:innen eine telefonierende Person zu zeichnen, wird dieses scheinbar einfache Anliegen zu einer vielschichtigen Angelegenheit. Vor der Erfindung des Mobiltelefons war der Vorgang des Telefonierens einfach zu beschreiben: Die Telefonierende spricht in ein geschwungenes Objekt, dessen eines Ende den gesprochenen Ton aufnimmt und dessen anderes Ende den Ton abgibt, in dem also ein Mikrofon und ein Lautsprecher verbaut sind. Dieser sogenannte Hörer ist mit einem Kabel, durch das ein elektronisches Signal geleitet wird, mit einem Kasten verbunden, auf dem die Wählscheibe, später die Wähltastatur aufgebracht ist. Das Ganze ist wiederum mit einem Kabel verbunden, das in eine Buchse in der Wand läuft. Telefondrähte an Masten, Verteilerstellen in Gebäuden, Unterseekabel und weitere Kabel, Drähte und Buchsen verbinden physisch zwei Sprechende und das kleine technologische Wunder eines Telefongesprächs über Kontinente hinweg wird Wirklichkeit. Aus zeichnerischer Sicht erkennt man das Prinzip der aus der Funktion abgeleiteten Form. Eine Person an einem alten Telefonapparat konnte genau eine Tätigkeit ausüben: Das Telefonieren.
Wollen wir zeichnerisch heutzutage einen telefonierenden Menschen abbilden, könnten wir der Person zwar einen kleinen, glatten, fast mystischen Gegenstand in die Hand geben, eine eindeutige Tätigkeit lässt sich daraus allerdings nicht mehr ableiten. Mit der Digitalisierung verliert die Maschine nicht nur ihre Fesseln in Form der Verkabelung, sondern immer stärker auch jede Form von Körperlichkeit. Wenn wir auf die Geschichte der Technologie zurückblicken, erkennen wir zwei große Entwicklungen, die auf die Gestalt des Maschinellen einwirken: zum einen einhergehend mit der Digitalisierung die Tendenz zur Entkörperlichung, zum anderen die Loslösung der Ableitbarkeit von Funktion aus Form.
Frans Masereel hatte es als Zeichner leichter. Seine zum Leben erwachten Maschinen werden zu mechanisch-organischen Mischwesen von physischer Präsenz. Die Körperlichkeit der damaligen Maschinenwelt war an sich schon beeindruckend: groß, laut, dampfend, rauchend, gar funkensprühend. Romain Rollands Forderung nach „bruiteurs et bruitophones”, nach Lärmmaschinen zur Untermalung der geplanten filmischen Animation, war da nur konsequent. Das Körperlich-Haptische wird zum Lustvollen, das Physisch-Große zum Bedrohlichen, das Mechanisch-Produktive zur destruktiven Auflehnung gegen den Menschen.
An die Stelle einer Maschine als mechanischem Stahlkoloss setzt sich im Laufe des 20. Jahrhunderts der Großrechner, dann der Personal Computer bis hin zum multifunktionalen Smartphone. Der Computer wird zur Universalmaschine, das Digitale zum Äther. Die digitale Maschine durchdringt in vielfältiger Weise unser Leben und ist näher dran an einer eigenständigen, vernetzten Lebendigkeit als je zuvor. Aber nicht die Maschine hat uns unterworfen, wir selbst haben uns abhängig von dieser neuen Maschinenwelt gemacht. Wenn früher die stählerne Maschine Rhythmusgeber und Herzschlag war, so ist sie heute in ihrer körperlosen Form Hunger und Nahrung zugleich. Sie durchdringt in ihrer Allgegenwärtigkeit jeden Winkel unseres Lebens und wir füttern sie bereitwillig mit unseren Daten.
Wird es einen Zeitpunkt geben, an dem die Maschinen mit künstlicher Intelligenz ausgestattet, dem Menschen als überwältigten Zauberlehrling enteilen und seiner überdrüssig werden? Durch das Körperlose des Digitalen fällt es uns Menschen schwer, den Grad der maschinellen Durchdringung des Lebens zu erkennen und daraus eine eventuelle Gefahr abzuleiten. Die heutigen Maschinen werden nicht plötzlich lebendig, sondern sie besetzen bereits funktional Momente des Lebendig-Seins. An die Stelle des körperlichen Erlebens setzt sich eine nicht-physische Virtualität auf den Rezeptoren unserer Sinneswahrnehmung fest und erzeugt eine generierte, entfesselte Gedankenwelt. Die Entfesselung des Gedankens als Entkopplung des Lebendigen vom Physischen manifestiert sich in der digitalen Vernetzung als neuronaler Superorganismus. Die Revolte der Maschinen wird nicht auf dem Schlachtfeld ausgefochten, nein, die Maschinenwelt wird Schritt für Schritt unser Leben durchdringen, das ersetzen, was wir lebenswert finden, und letztendlich mit uns als ihrem Wirt zugrunde gehen.
In der Ausstellung Die Revolte der Maschinen oder der entfesselte Gedanke werden künstlerisch zeichnerische Positionen gezeigt, die an das Originalwerk von Frans Masereel und Romain Rolland anknüpfen und die Auseinandersetzung mit einer omnipräsenten Maschinenwelt weiterführen. Dabei geht es nicht darum, die Maschinenwelt illustrativ abzubilden, sondern vielmehr die Frage aufzuwerfen, inwiefern die totale digitale Durchdringung uns als Künstler:innen beeinflusst und unsere Arbeits- und Denkweise prägt.
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